Hochwasser 1872
Das verheerende Sturmhochwasser von 1872 jährt sich dieses Jahr am 12. / 13. November zum 150. Mal. Zu diesem Anlass gibt es bei uns an der Ostsee Ausstellungen in Kellenhusen, Dahme (ab 12. November) und Pönitz.
Das Sturmhochwasser von 1872 war nicht einfach ein Hochwasser, wie wir es hier an der Ostsee alle paar Jahre haben. Sturm lässt dann das Wasser sehr hoch auf dem Strand auflaufen. Der Strand muss dann repariert werden und / oder die Grundstückseigentümer auf der Steilküste verlieren ein Stück Land.
Im November 1872 war es anders: mit Wasserständen bis zu 3,3 m über dem Normalniveau hat es viele Orte an der Ostseeküste überschwemmt, Gebäude zerstört und diverse Menschen und Tiere getötet. Wellen waren in der Nacht wohl bis zu 6 Meter hoch, der Pegel in Warnemünde soll 6,9m angezeigt haben. (Quelle). Die genauen Zahlen sind eigentlich nicht wichtig. Wer sich aufmerksam durch die Gegend bewegt, wird an vielen Stellen Wasserstandsmarken mit Verweis auf 1872 entdecken. Das zeigt wie bedeutend dieses Naturereignis vor 150 Jahren gewesen sein muss.
Warum spreche ich hier von Hochwasser statt Sturmflut?
Bei einer Sturmflut wird das nach der Ebbe auflaufende Wasser durch Sturm verstärkt. An der Ostsee gibt es keine nennenswerten Gezeiten. Daher gibt es keine Flut, die durch auflandigen Wind zu einer Sturmflut werden kann. Die Frage ist natürlich ob man korrekt sprechen oder sich dem Sprachgebrauch anpassen möchte? Ich habe vor vielen Jahren eine Stoffsammlung zum Thema auch unter der Überschrift Sturmflut 1872 gemacht, vielleicht aus Gründen der Suchmaschinenoptimierung.
Badewanneneffekt an der Ostsee
Das war die Vorgeschichte des Hochwassers 1872: nach tagelangem Westwind mit extremem Niedrigwasser drehte der Wind auf Orkan aus Nord-Ost. Das durch Westwinde aus der Nordsee zugeflossene Wasser konnte nicht schnell genug durch den Skargerak in die Nordsee zurück. Somit „schwappte“ das Wasser als „Sturmflut“ mit einer Höhe von ca. 3,30 m über N.N. am 13. November 1872 in die Orte an der Ostseeküste. Der Badewanneneffekt tritt regelmäßig nach ablandigem Wind auf. Das zurückschwappende Wasser erreicht die Küste in Schleswig-Holstein nach 27,3 Stunden. (Quelle: Seite 33, Hassenpflug, Kortum u.a., An Nord- und Ostsee, Husum-Verlag). 1872 kamen die Windverhältnisse extrem verstärkend zu diesem natürlichen Effekt.
Deichbau an der Ostsee
Nach dem Sturmhochwasser von 1872 wurden viele Deiche an der Ostsee verstärkt oder überhaupt erst gebaut. Der damalige Dahmer Bürgermeister Heinricht Mumm schrieb: „Der jetzige Deich ist aus gutem Lehm in den Jahren 1874—76 gebaut. Meines Erachtens wird dieser Deich, wo er sich schon 50 Jahre gelagert hat und beim Bau fortwährend von 12 Pferden festgestampft ist, einer Flut wie 1872 standhalten. Und dass eine Flut noch ärger wird als diese, ist kaum anzunehmen.“
Zwischen Rosenfelde und der Dahmer Steilküste wurde dieser Deich von 2011 bis 2013 verstärkt bzw. neu gebaut. Auf meiner Frage ob der neue Deich von Dahme einem Hochwasser wie 1872 standhalten würde, sagte mir der Ingenieur, der die Planungen präsentierte, sinngemäß: „Nein, so etwas würde dieser Deich nicht aushalten. Es wäre nicht sinnvoll, einen Deich für ein in der bisherigen Geschichte so einmaliges Naturereignis zu bauen.“ Das war vielleicht eine ehrlichere Antwort als sich die Landesregierung gewünscht hätte. Gleichzeitig ist wohl zu sagen, dass die Schäden eines vergleichbaren Ereignisses heute deutlich größer wären, da die Küste 1872 wesentlich dünner besiedelt war.